Andacht
„Aber Gottes Hilfe habe ich erfahren bis zum heutigen Tag und stehe nun hier und bin sein Zeuge.“
Liebe Leserinnen und Leser,
diese Worte stammen aus einer Verteidigungsrede des Paulus, die uns in der Apostelgeschichte überliefert ist. Der Apostel befindet sich in Gefangenschaft und muss sich verantworten – ihm wird vorgeworfen, Unruhe gestiftet zu haben, weil er die Botschaft von Jesus Christus unter die Menschen gebracht hat. Als König Agrippa II. nach Cäsarea kommt, nutzt Paulus die Gelegenheit, seinen Weg und seine Berufung zu schildern.
Er erzählt offen davon, dass er einst ein überzeugter Pharisäer war, der die junge christliche Gemeinde erbittert bekämpfte. Er berichtet von seinem Damaskuserlebnis – jenem Wendepunkt, an dem ihm sprichwörtlich „die Augen aufgingen“ und er erkannte, wie falsch sein bisheriger Weg war. Paulus verschweigt nicht, was ihm im Nachhinein leidtut. Gerade durch diese Ehrlichkeit, durch seine radikale Umkehr, wird sein Zeugnis so kraftvoll.
Ein Sprichwort sagt: „Gott kann auch auf krummen Linien gerade schreiben.“ – Das trifft auf Paulus in besonderer Weise zu.
Im August ist der Zeugnistag vieler Schülerinnen und Schüler noch frisch in Erinnerung. Für manche ist das ein Tag der Freude, für andere eine Quelle der Enttäuschung oder des Ärgers. Zuhause wird nicht nur gelobt, manchmal gibt es auch kritische Worte – verständlich, denn Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Doch der Blick nur auf Defizite führt in eine Sackgasse.
Das gilt für unser ganzes Leben: Wer ständig nur zurückschaut auf Fehler und Misserfolge, dem fällt es schwer, nach vorne zu sehen. Bitterkeit kann sich breitmachen. Doch Gottes Blick auf uns ist ein anderer – das hat Paulus erfahren: Gott sieht in uns mehr als unsere Versäumnisse.
Denken wir an das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Der junge Mann fordert sein Erbe, verschwendet es, scheitert. Doch als er heimkehrt, begegnet ihm der Vater mit offenen Armen. Keine Vorwürfe, keine Anklagen – nur Freude über seine Rückkehr.
Wer auf Irrwegen war und dann doch eine offene Tür vorfindet, weiß umso mehr, was Gnade bedeutet.
Dietrich Bonhoeffer hat es einmal so gesagt:
„Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wir haben einen Gott, der uns auch mit unseren Fehlern annimmt. Einen Gott, der in uns mehr sieht, als wir manchmal selbst sehen. Seine Hilfe haben wir erfahren bis zum heutigen Tag – und darum sind auch wir aufgerufen, Zeugnis zu geben: durch einen freundlichen, wertschätzenden Blick auf unseren Nächsten, durch Liebe, die sich im Alltag zeigt.
Ihre Pfarrerin
Dr. L. Milbach-Schirr
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